Kritiken

Open Air: Der "Freiburger Jedermann" des Wallgraben Theaters

Bettina Schulte

Von Bettina Schulte

So, 12. Juli 2020 um 20:20 Uhr

Theater

BZ-Plus Baulöwen, Bächleputzer und Praktikantinnen auf Suche nach Nachhaltigkeit – der "Freiburger Jedermann" des Wallgraben Theaters im Rathausinnenhof ist gespickt mit Anspielungen auf die Stadt.

Man muss die Feste feiern, wie sie fallen – die schöne Volksweisheit ist in diesem Jahr ausgehebelt: keine Hochzeiten, keine Geburtstage, keine Jubiläen. Wer kündet schon von "Freiburg – 900 Jahre jung" – außer der verlorenen bunten Fahne auf dem Platz der Alten Synagoge und dem verloren wirkenden Kiosk? Wer denkt daran, dass Hugo von Hofmannsthals Spiel vom Tod des reichen Mannes "Jedermann", das die Salzburger Festspiele begründet hat, bei deren Rumpffassung bald zum 100. Mal aufgeführt wird? Und wer hätte bei all den Bestimmungen und Verordnungen bisher gewürdigt, dass die Rathaushofspiele des Freiburger Wallgraben Theaters zum 45. Mal stattfinden?
Jetzt ist die dreifache Gelegenheit da: "Das große Fest oder Ein Freiburger Jedermann", das diesjährige Open Air der Kellerbühne, bringt den Ur-Jedermann in einer Freiburger Jubiläumsvariante von Dirk Schroeter heraus. Klar gibt es da den Bächleputzer, der auch als Konrad I. von Zähringen auftritt, es gibt die Praktikantin, die sich als Event-Managerin ausgibt und nach einer ökologisch nachhaltigen Idee für das große Stadtfest sucht; es gibt die Jüdin, die an Ausgrenzung und Vertreibung erinnert, es gibt den Flüchtling (mit Hoodie, Sonnenbrille und Bermudas), der sein Menschenrecht auf Beteiligung am Wohlstand einklagt. Und es gibt den reichen Mann, einen Baulöwen und Geizkragen mit erotischer Beziehung zum Mammon, der sich über moralische Bedenken hinwegsetzt und es zum Geburtstag der Kommune – natürlich nur zu seinen eigenen Gunsten – so richtig krachen lassen will. Er ist mit David Köhne, der seit zwei Jahren die Alemannische Bühne leitet, bestens besetzt. Köhnes Jedermann hat die physische Präsenz, die es für diese Figur braucht – es sei denn, man definiert sie um wie 2019 die Freiburger Immoralisten bei ihrem Open Air. Selten ist der Ort der Aufführung so schlüssig in eine Inszenierung integriert worden – Regie führen die Wallgraben-Leiter Regine Effinger und Hans Poeschl selbst – wie diesmal. Das Gebäude des Neuen Rathauses mit seinen Aufgängen, Türmchen und Fenstern fügt sich glänzend in die mühelos zwischen Jetztzeit, historischen Anspielungen und überzeitlichem Mysterienspiel switchende Aufführung. Allein der Auftakt ist stark: Da erscheinen die Dramatis Personae an den Fenstern hinter Gazevorhängen wie Gespenster aus dem Jenseits – in das Jedermann am Ende ja befördert werden soll. Die Buhlschaft (Natalia Herrera) präsentiert ihre verführerischen Reize vom linken Seitenaufgang aus. Sie trägt – wie das auch der Salzburger Buhlschaft seit je gebührt – ein phantastisches rotes Kleid.

Der Teufel trägt Plateau-Lackhufe

An den insgesamt prächtigen Kostümen wurde nicht gespart: Vor allem der Teufel (Hans Poeschl) kann am Ende mit schwarzen Plateaulackhufen der besonderen Art auftrumpfen, während der Tod, hier "Schöpfung" genannt (Regine Effinger), eine fast durchsichtig anmutende silbrige Erscheinung ist.

Es ist ein rechtes Spektakel geworden, dem man die Corona-Bedingungen seines Entstehens kaum anmerkt. Räumliche Distanz herzustellen, ist in diesem Setting keine Kunst und keine Qual: Sie ergibt sich quasi von selbst aus den topographischen Gegebenheiten. Nur eine Innen-Spielstätte für schlechtes Wetter gibt es erstmals nicht. Und natürlich auch keine Pause, keine Bewirtung, dafür Einbahnstraßen beim Ein- und Auslass. Aber so ist das eben in diesem Sommer: Und jedem Kulturschaffenden, der gegen die drohende Lähmung des Betriebs anspielt, gebührt großer Respekt; ganz abgesehen davon, dass Privattheater wie das Wallgraben von ihren Einnahmen leben müssen.

Auch deshalb wohl ist es zum Doppeleinsatz der Prinzipale gekommen, die auf beiden Seiten der Bühne absolut souverän agieren. Die herausragende Leistung des Ensembles wird vervollständigt durch Sybille Denker und Christian Theil, beide in diversen Rollen.

Ein jubiläumsreifes Happy End

Der reiche Mann, man weiß es, hat allezeit viele Freunde. Doch wenn’s ans Sterben geht, ist auch der Reiche ganz allein. Das muss auch der Freiburger Jedermann begreifen. Doch gibt die Schöpfung, die ihrem Namen alle Ehre macht, ihm – und damit den Menschen – noch eine letzte Chance: Ohne Gott und Teufel sind sie auf sich allein gestellt. Sie müssen jetzt nur noch das Richtige tun.

Ein jubiläumsreifes Happy End. Trotzdem fließt der Text über weite Strecken geschmeidig in Hofmannsthals Versmaß: Das ist gut so, gerade weil sich die mitunter etwas bemühten 900-Jahr-Einsprengsel am Ende verlieren. Das Spiel vom Jedermann reicht eben über jedes Stadtjubiläum hinaus. Erst recht über ein verschobenes. Großer – wenn auch aufgrund der Umstände kein stürmischer – Beifall für alle Mitwirkenden, deren Namen man gern auf einem Programmzettel gelesen hätte. Es gab leider keinen. Aus Hygienegründen?

Von Heidi Ossenberg

Sa, 27. April 2019 

 

 

Neues Leben für einen Klassiker

Lessings "Minna von Barnhelm" im Freiburger E-Werk

 

Sehr lebendig und sehr von heute: Dirk Schröter inszeniert Lessings Lustspiel "Minna von Barnhelm"

für die Experimentalbühne im Freiburger E-Werk.

 

Inhaltlich knapper auf den Punkt gebracht wurde Gotthold Ephraim Lessings "Minna von Barnhelm – Lustspiel

in fünf Aufzügen" von 1767 wohl nie: "Minna liebt Tellheim, doch Tellheim liebt Preußen. Franziska liebt

Werner, doch Werner liebt Geld. Just liebt die Ruhe, doch die Wirtin liebt Rummel. Und die Dame in Trauer?" So

steht es auf dem Flyer zum Stück, das Dirk Schröter mit Schauspielschülerinnen und -schülern für die

Experimentalbühne im Freiburger E-Werk erarbeitet hat. Die Farbe des Flyers ist rosa, die Schrift hellblau. Ein

weiterer Hinweis darauf, dass es um das Verhältnis der Geschlechter geht. Und ein Hinweis auch auf das Ziel des

Regieteams (neben Schröter Jeanine Amacher als Regieassistentin und Moira Pawellek als Dramaturgin): Hier

soll ein Klassiker zu neuem Leben erweckt werden!

Um es vorweg zu nehmen: Dieses Vorhaben ist famos geglückt. Die tiefe Bühne ist durch Vorhänge an beiden

Seiten optisch verkürzt. Sie werden nach Bedarf auf- und zugezogen, dahinter verbergen sich: die Bar, an der die

 

Wirtin des Gasthauses in Berlin ihre Händel vollzieht, oder die Sitzbänke, vor und auf denen die acht Figuren

agieren. Eine Tür und ein weiterer Vorhang trennen das Zimmer ab, das der preußische Major von Tellheim

bewohnte und das die Wirtin dem sächsischen Fräulein Minna von Barnhelm und ihrer Freundin Franziska

vermietet. Diese sind auf der Suche nach Minnas Verlobtem Tellheim, der sich ihr nach dem Ende des

Siebenjährigen Krieges ohne Erklärungen entzogen hat. Als Kenner der Geschichte weiß man, dass Tellheim

Minna nicht verlassen hat, weil seine Liebe erloschen wäre. Er ist der Meinung, Minnas nicht würdig zu sein. Als

die beiden sich wiederbegegnen, fallen sie einander in die Arme – doch gleich macht Tellheim wieder einen

Rückzieher; seine Gefühle über seine Moralvorstellungen zu stellen, das gelingt diesem Mann einfach nicht.

Diesen zentralen Konflikt des Stücks könnte man leicht als überholt ansehen. Doch Schröter zeigt, dass das nicht

stimmt. Alle Figuren sind vom Krieg versehrt – nur sind die Frauen froh, dass das Sterben ein Ende hat, die

Männer hingegen glauben, in Friedenszeiten ihre Daseinsberechtigung verloren zu haben. Das zeigt sich nicht

zuletzt durch die permanente Anwesenheit der Witwe von Tellheims Stabsrittmeister Marloff (Jana Ludwig) auf

der Bühne, die eindrucksvoll mit der Rezitation von Matthias Claudius’ Kriegslied ("’s ist Krieg") beginnt.

Schröter hat behutsam Hand an Lessings Klassiker angelegt. Gelungen sind die "modernen" Lieder, die wie die

originellen Kostüme für Heiterkeit sorgen. Die Originalsprache ist weitgehend erhalten, lediglich an manchen

Stellen gekürzt und umgestellt – und mal werden zwei Szenen parallel gespielt Dafür ist es zwingend, dass die

Darsteller deutlich sprechen – vielleicht war es der Aufregung bei der Premiere geschuldet, dass dies nicht immer

glückte.

Ansonsten ist spürbar, dass die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler sich sehr ins Zeug gelegt haben.

Frisch und engagiert spielt Artur Grenz den derben Just, Selina Farine die auf ihren Vorteil bedachte Wirtin, Nils

Jensen den loyalen Wachtmeister Werner, Sebastian Götze einen herrlich depperten Feldjäger. In ihrem fein

abgestimmten Zusammenspiel gefallen Veronika Wider als Franziska und Aileen Rohde als Minna; beide legen so

viel Spielfreude und Präsenz auf die Bühne, dass ein Besuch der Aufführung schon um ihretwillen lohnt. Lion

Koch meistert die Partie des Tellheim überzeugend in Lessings Sinn: "der edelste, stärkste Charakter, der immer

mit einer gewissen Würde und Härte handelt, ohne die keine Mannsperson sein sollte". Dass die moderne Minna

mit dieser Rollenzuschreibung ihre Probleme hat – davon sollte sich man sich selber überzeugen. Begeisterter

Applaus.

 

 

 

das mass der dinge / Neil LaBute

Badische Zeitung vom 02.05.2006

Dirk Schröter inszenierte am Freiburger Wallgraben-Theater Neil LaButes Stück um Liebe und Formbarkeit

Was liebst du an anderen? Meine Hoffnungen?, heißt es in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft. Doch die von der energischen Kunststudentin Evelyn betriebene Wissenschaft in der Liebeskunst ist zugleich eine formende und zurichtende.

 

Nicht genug, dass sie mit Hilfe einer Sprühdose die im Museum der kleinen Universitätsstadt gezeigte männlichen Statue um ein unverzichtbares Körperteil ergänzen will ? der schüchterne junge Aufseher Adam erweist sich sogleich als ein viel lustvolleres Objekt der Formung, weil er statt aus Gips oder Marmor eben aus Fleisch und Blut besteht.Ihre schrittweise Verwandlung des linkischen, scheuen und obendrein kurzsichtigen Anglistik-Studenten in einen selbstbewussten und gut aussehenden jungen Mann voller Ausstrahlung und Kraft könnte als schöner Erfolg der Menschlichkeit gelten, wäre da nicht die Vorspiegelung der Liebe, wo berechnender Zweck und das notwendige Bestehen einer Präsentationsprüfung die eigentlichen Triebfedern sind . . .

Dirk Schröter, der scheidende Spielleiter und Dramaturg am Freiburger Wallgraben-Theater, führt in dem ?Schauspiel? des US-Amerikaners Neil LaBute mit leichter Hand die erotischen Verwirrungen und Verwechslungen zweier junger Paare zusammen. Auch wenn die Qualität der Dialoge leider immer wieder auf das Niveau billiger amerikanischer Vorabendserien absinkt (einige Streichungen hätten dem Werklein gut getan), bringt der stets spannende Pygmalion - Stoff und die große Bühnenpräsenz der Schauspieler ein zwischen Heiterkeit und Ernst hin und her pendelndes Geschehen zu Wege.

Heidi Klein als Evelyn verkörpert nicht ohne massive Wuchtigkeit den eisernen Willen zum Erfolg, wie er im American Dream einstmals allein den Männern vorbehalten war. Als Adam, seiner braunen Kordjacke entwachsen, gestylt, mit neuem Haarschnitt und Kontaktlinsen versehen, seine Degradierung vom Geliebten zum bloßen Objekt künstlerischer Dokumentation durchschaut, misslingt leider eine wirklich dramatische Konfrontation der beiden bei der ?Vernissage? . ?Irgendwer zahlt für deine zwei Minuten auf CNN? , heißt es lakonisch, und damit erscheint schlaglichtartig die ?Welt als Phantom und Matrize? (Günther Anders), der sich der Mensch ? weil er, so wie er ist, nicht bestehen kann ? als Kunstprodukt seiner selbst zu unterwerfen hat.

Ein ernstes Thema, zu ernst für den Boulevard vielleicht. Jenny und Phillip sind das befreundete ?Gegenpaar? , sind zwischen Vorstadttraum vom Eheleben und Cocktailparty-Kultur eher angepasst (Susanne Winkler und Patrick Schmick) und vom Lebensgrübel nicht angekränkelt. Sie mischen Evelyn und Adams Geschichte mit Hilfe schlichterer Verlockungen kräftig auf.

Eine muntere, frische Inszenierung, besonders für junge Menschen, lebendig und unterhaltsam, die jede Menge Stoff für Gespräche über Gestaltung und Sinn des Lebens zu zweit liefert. Gelungen sind auch das ebenso schlichte wie klare, mit farbigen Schattenrissen spielende Bühnenbild und die Kostüme (Susanne Mühlbauer). Ein weiterer guter Schritt zur Verjüngung des Wallgraben-Theaters und seines Publikums. (Peter Winterling)